Leben, lieben, wachsen ... Therapie
Hier greife ich einzelne Punkte, die ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit wichtig finde, heraus und denke sozusagen laut darüber nach.
Dabei habe ich keinerlei Anspruch auf Wahrheit oder Allgemeingültigkeit.
Meine Gedanken sollen dir einfach ein Stück des Bildes zeigen, das ich mir von Menschen im allgemeinen und von Therapie im besonderen gemacht habe.
Vielleicht kannst du etwas damit anfangen - und dich davon inspirieren lassen, dir dein eigenes Lebensmodell zu bauen.
Mal aufgedröselt ...
Wer sind wir eigentlich?
Gar nicht so leicht zu beantworten: Was macht unsere Persönlichkeit aus?
Unsere Gene? Unsere Vorfahren, die diese Gene beeinflusst haben? Der Verlauf unserer Schwangerschaft und Geburt? Die Familie, in die wir hineingeboren wurden? Das Umfeld, in dem wir aufgewachsen sind? Wie wir heute leben? Die Gesamtheit unserer schönen und schmerzhaften Lebens- und Lernerfahrungen, die alle Entscheidungen bestimmen, die wir in der Gegenwart treffen? Unsere Hirnchemie, die durch all das bestimmt wird und anders herum all das mitbestimmt?
Und all das ist ja noch nicht einmal alles. Ganz schön komplex, wir Menschen!
Was uns aber auch jede Menge unterschiedlicher Stellschrauben liefert, mittels derer wir unser Denken, Fühlen und damit auch unser Leben als solches beeinflussen können.
Na gut, manche dieser Schrauben sind leider schon in unserer Vergangenheit reingedreht worden und können nicht mehr so ohne weiteres verstellt werden. Was wohl zur Folge hat, dass wir uns in manchen Bereichen mit bestimmten Gegebenheiten abfinden müssen und versuchen, das Beste daraus zu machen.
Dennoch sind wir uns und unserem Leben nicht ohnmächtig ausgeliefert, sondern können ganz viel tun, um es zu gestalten und gegebenenfalls auch zu verändern, wenn wir das wollen.
Wo kommen wir her?
Als kleine Kinder hatten wir gar keine andere Wahl, als mit dem, was uns umgab, irgendwie klarzukommen. Ohnmächtig, wie wir waren, waren wir in höchstem Maße auf unsere Bezugspersonen angewiesen und haben folglich alles getan, was in unserer begrenzten Macht stand, um so gut wie möglich mit ihnen zusammenleben zu können.
Bindungstheorie
Zum Glück hat ein Baby prinzipiell alle Fähigkeiten, die es dafür braucht: Die Fähigkeit, sich an eine Bezugsperson zu binden und dafür zu sorgen, dass diese sich auch ihrerseits an es bindet.
Entwicklungstrauma
Was ganz harmlos klingt, hat es ganz schön in sich. Denn für ein Kind bedeutet es schlicht und einfach Lebensgefahr, wenn diese Bindung misslingt: Wird ein Kind sich selbst überlassen, stirbt es.
Doch auch wenn die Bindung nur eingeschränkt gelingt – weil die Bezugsperson emotional nicht zur Verfügung steht oder nur unter bestimmten Bedingungen, die es für das Kind notwendig machen, sich von seinen eigenen Befürfnissen zu entfernen, um sich daran anzupassen – hat das schädliche Auswirkungen auf das Kind, die sich auf dessen gesamtes späteres Leben auswirken können.
Derartig ungünstige Bedingungen in der Kindheit werden als Entwicklungstraumata bezeichnet. Diese Traumata müssen nicht so objektiv dramatisch und erschütternd sein wie die Erlebnisse, die man gemeinhin als ›Trauma‹ bezeichnet. Es geht also nicht nur um offensichtliche Traumata wie Misshandlungen und Missbrauch.
Für ein Baby reicht es schon, regelmäßig sich selbst überlassen zu werden, obwohl es schreit. Oder seine Bezugsperson nicht erreichen zu können, weil diese vielleicht depressiv ist und nicht angemessen auf es eingehen kann. Auch Überbehütung kann schädliche Folgen haben: Daran gehindert zu werden, Erfahrungen zu machen, zu erleben, dass es selbst Dinge lernen und allein schaffen kann.
Unter Entwicklungstrauma fällt also alles, was das Kind in seiner Entwicklung anhaltend und wiederkehrend behindert.
Was bedeutet das für unser weiteres Leben?
Die Konsequenz daraus: Aus derartigen Gefährdungen heraus haben wir Strategien entwickelt, wie wir in dieser beeinträchtigenden Umgebung so gut wie möglich überleben konnten. Zum Zeitpunkt, da wir diese Strategien erlernten, waren die lebensrettend und unbedingt sinnvoll. Deshalb haben sie sich ganz tief in unsere Gehirne eingebrannt und können jederzeit blitzschnell abgerufen werden, sobald sich eine neue Gefahr anbahnt. Auch das super-sinnvoll und mit Sicherheit der Grund, weswegen wir trotz allem größer und irgendwann auch erwachsen werden konnten.
Window of tolerance: Unser Nervensystem
Im Zusammenhang mit unseren frühkindlichen Bindungserfahrungen hat sich gerade in den letzten Jahren der Blick auf unseren gesamten Organismus ausgeweitet. Weil wir in der Bindung mit unseren frühen Bezugspersonen auch lernen, wie wir mit Reizen umgehen und wie wir unser Nervensystem bei Stress oder auch zu wenig Ansprache dorthin regulieren können, wo es uns wieder wohl fühlen: In unserem individuellen Window of tolerance.
Gelingt die frühe Bindung nicht oder nur unzureichend, haben wir in unserem gesamten weiteren Leben Schwierigkeiten mit dieser Regulation.
Um das zu kompensieren, hat unser Organismus wiederum Strategien entwickelt. Oftmals sind diese jedoch ungünstig für uns, etwa wenn wir zu Medikamenten oder Drogen greifen oder andere schädliche Verhaltensweisen praktizieren - was sich jeweils ja auch derartig verstärken kann, dass wir davon regelrecht abhängig werden.
Auch psychische Störungen wie Angst und Zwang oder Depressionen können ihre Ursache darin haben, dass unser Organismus die zu kleine oder zu große Spannung nicht anders regulieren kann als mit den damit verbundenen Symptomen.
Auch der gesamte Bereich der Psychosomatik kann vor diesem Hintergrund gesehen werden.
Und was ist jetzt?
Wir sind noch hier. Mit unseren Anlagen, unserer individuellen Geschichte, mit den günstigen und weniger günstigen Voraussetzungen in uns und um uns herum - und mit den Strategien, die wir daraus abgeleitet haben.
Meistens ist unsere Vergangenheit uns ja gar nicht bewusst. Wir leben einfach vor uns hin. Versuchen, ungute Voraussetzungen zu überwinden, schlimme Erfahrungen hinter uns zu lassen, uns neue Fähigkeiten anzueignen, die uns ein glücklich(er)es Leben versprechen.
Im Rahmen dieser Bemühungen treffen wir eine Menge Entscheidungen. Entweder weil sie uns richtig erscheinen – als das kleinere Übel oder vielleicht als der einzige Ausweg. Manchmal lassen wir Dinge auch einfach geschehen, weil wir sie gar nicht bemerken oder deren Tragweite nicht überschauen.
Einiges davon können wir später neu entscheiden.
Mit anderem müssen wir in Zukunft leben.
Überhaupt müssen wir uns zuweilen eingestehen, dass wir längst nicht alles in unserem Leben im Griff haben. Immer wieder werden wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert oder sogar von Schicksalsschlägen ereilt.
Wir sind nicht allein
Und obwohl wir als Erwachsene meist nicht mehr in dem Maße von ihnen abhängig sind wie damals als Kinder – auch heute werden wir hochgradig beeinflusst von den Menschen um uns herum.
Für einige von Ihnen haben wir uns bewusst entschieden, mit anderen sind wir durch Verwandtschaft, Nachbarschaft, Beruf oder andere Umstände verbunden.
Zu den ärgerlichsten Dingen auf dieser Welt gehört die Tatsache, dass wir unsere Mitmenschen nicht so zu verändern können, wie wir sie uns wünschen. Wir können versuchen, sie irgendwie zu beeinflussen, wir können unser eigenes Verhalten verändern in der Hoffnung, dass wir sie so einladen, sich selbst ebenfalls anders zu verhalten.
Manchmal haben wir sogar Glück. Doch oft stoßen wir da an Grenzen.
Die systemisch-konstruktivistische Perspektive
Wir müssen also akzeptieren, dass es uns nicht möglich ist, jeden beliebigen Aspekt unseres Lebens so zu verändern, dass alles gut wird.
Doch hier kommt die Kernidee der systemischen Therapie ins Spiel. Was wir nämlich immer tun können: Uns selbst verändern. Lernen, anders mit unabänderlichen Gegebenheiten umzugehen.
Und wundersamerweise verändert sich dadurch letztendlich auch unser Drumherum. Indem wir bestimmte Dinge anders bewerten und empfinden als zuvor. Indem wir aufhören, mit einer Gegebenheit zu hadern. Indem wir erkennen, dass wir dieser Gegebenheit womöglich gar nicht so hilflos ausgeliefert sind, sondern durchaus Möglichkeiten haben, aktiv damit umzugehen. Indem wir erkennen, dass selbst dort, wo wir davon überzeugt waren, dass nichts veränderbar wäre, Lösungen existieren.
Fokus auf der Lösung statt auf dem Problem
Ja, ich gehe so weit, zu behaupten: Es gibt immer eine Lösung, ganz egal, wie ausweglos eine Situation uns auf den ersten Blick erscheint.
Vielleicht ist es nicht möglich, ›alles wieder gutzumachen‹.
Doch es gibt Möglichkeiten, die es besser machen als zuvor.
Überhaupt muss eine Lösung nicht unbedingt etwas Drastisches sein – wie einen Job zu kündigen, eine Beziehung zu beenden oder umzuziehen. Schon kleinere Veränderungen haben zuweilen große Wirkungen.
Das berühmte Mobile ...
... das in keinem Lehrbuch der systemischen Therapie fehlt: Wenn man einen Teil des Mobiles anstößt, bewegen sich alle Teile.
Abgedroschen, aber wahr:
Das immer wieder Erstaunliche ist, wie sehr wir durch eine Veränderung bei uns selbst auch auf die Menschen um uns herum einwirken, die dann auf unser verändertes Verhalten reagieren und ihrerseits aus den festgelegten Mustern heraustreten und sich anders verhalten als zuvor.
So ohnmächtig, wie es sich in manchen Lebenslagen anfühlen mag, sind wir also gar nicht. Es gilt, genau hinzuschauen und nach möglichen Ansatzpunkten zu suchen – um dann zu überlegen, wie es anders weitergehen könnte.
Manchmal können wir nur das Innen verändern
Okay, manchmal ist auch einfach nichts zu ändern an den äußeren Gegebenheiten, die uns beeinträchtigen. Krankheit und Tod, eine gescheiterte Beziehung, ein verlorener Job ...
Doch selbst in solchen Fällen kann uns eine veränderte Sichtweise Erleichterung verschaffen.
Es besteht ein großer Unterschied darin, ob wir uns widrigen Umständen ohnmächtig ausgeliefert fühlen oder uns aktiv damit auseinandersetzen. Verstehen, wie wir auf die Situation reagieren und warum das so ist. Und uns bewusst dafür entscheiden, uns damit zu arrangieren, statt weiter damit zu hadern.
Das Bild des inneren Kindes
Dieses Konzept ist viel älter und geht u.a. auf John Bradshaw zurück, hierzulande wird es vor allem mit Stefanie Stahl verbunden.
Wiederfinden kann man es jedoch auch in der Transaktionsanalyse mit ihren Kindzuständen, bei Gerald Hüther, wenn er von »Verwicklungen« im Gehirn spricht, oder in der Psychotraumatologie, wenn von Traumanetzwerken und automatisch ablaufenden Schleifen in unserem limbischen System die Rede ist. Selbst an der Verhaltenstherapie ist die Idee nicht vorbeigegangen: Die Schematherapie lebt von unseren inneren Kindern.
Ich habe ich mir folgendes Modell gebaut:
Es kann sein, dass bestimmte einschneidende Erlebnisse in unserer Kindheit - Schock- oder Entwicklungstratmata - dafür sorgen, dass sich der Ich-Zustand, aus dem heraus wir diese Krise erleben, sozusagen in uns einprägt. »So war die schlimme Situation damals. Vorher gab es verschiedene Alarmzeichen, die sie angekündigt haben. Und folgendermaßen habe ich mich damals verhalten und deshalb überlebt.«
Erkennen wir im weiteren Verlauf des Lebens bestimmte Warnsignale wieder, wissen wir sofort: Es droht uns eine vergleichbare Katastrophe wie damals, und wir müssen ganz schnell unsere damalige Reaktion wiederholen, um auch diesmal zu überleben.
Dieses Schutzprogramm war in der Vergangenheit super-sinnvoll und hat dafür gesorgt, dass wir überlebt haben.
Der automatisch damit verbundene Schluss, dass wir uns auch in der Gegenwart und Zukunft genau so verhalten müssen wie früher, kann allerdings problematisch sein - insbesondere dann, wenn der ›abgespeicherte‹ Kind-Ich-Zustand noch sehr jung war und dementsprechend kindliche Überzeugungen und Verhaltensweisen an den Tag legt.
Außerdem laufen derartige Programme blitzschnell ab, sobald wir einen ›gefährlichen‹ Reiz wahrnehmen - sodass wir nicht vorher nachdenken und unser Verhalten gegebenenfalls stoppen können.
So kann es passieren, dass wir als Erwachsene extremes Verhalten abspulen, das in der aktuellen Situation völlig unangemessen und ›drüber‹ erscheint und oft mehr Schaden anrichtet, als es uns helfen würde.
Betrachten wir diesen Anteil in uns nicht als ›Dämlichkeit‹, ›Selbstsabotage‹ oder ähnliches, sondern als inneres Kind in uns, mit dem wir mitfühlen können, ist es viel leichter, derartige Muster zu verändern.
Indem wir eben nicht wütend auf uns einstechen, nicht ungeduldig an uns zu zerren, nicht versuchen, uns mit Gewalt dazu zu bringen, uns erwachsen und vernünftig zu verhalten. Sondern unser früheres Ich mitsamt seiner Not und seinen Bewältigungsstrategien anerkennen und würdigen. Um dann allmählich und geduldig zu realisieren, dass wir heute nicht mehr das wehrlose Kind von damals sind und neue Strategien lernen können, um schwierigen Situationen zu begegnen.
Zunächst einmal müssen wir lernen und einüben, das automatische Programm rechtzeitig zu stoppen - und rechtzeitig heißt: Bevor es abzulaufen beginnt. Dazu brauchen wir die berühmte Pause zwischen Reiz und Reaktion - Grüße an Traumatherapeutin Dami Charf gehen raus.
Erst wenn wir diese Pause beherrschen, kommen wir in die Lage, in heiklen Situationen unseren Kopf und unsere erwachsenen Fähigkeiten einzusetzen und unserem abgespeicherten Kind glaubhaft zu machen, dass sein geniales Überlebensprogramm heute nicht mehr notwendig ist und dass es bessere Alternativen gibt, mit denen wir weiterkommen.